Der menschliche Wahrnehmungsprozess ist immer an einen Körper gebunden, der sich zumeist in Aktion befindet – nicht nur in physikalischer, sondern vor allem in psychologischer Aktion.
Die Handlungen sind begleitet von Denkprozessen, Gefühlszuständen und Absichten. Dadurch ist der Beobachter niemals völlig „neutral“, sondern er hat bestimmte Einstellungen und Erwartungen, die die Wahrnehmungsorganisation in dieser oder jener Richtung beeinflussen. Wenn ein Wanderer in einen Wald geht, so erwartet er dort Bäume, Büsche und Tiere, aber keine Hochhäuser oder Flugzeuge. Wenn ein Durstiger einen Wasserhahn aufdreht, erwartet er Wasser und keine Musik. Ein 100 m-Sprinter hat am Start seine Muskulatur auf den Sprint eingestellt. Dies ist eine motorische Einstellung. Wenn ein Schüler in eine interessante Stunde geht, hat er sein Gehirn auf den zu erwartenden Lernprozess eingestellt. Dies ist eine gedankliche oder geistige Einstellung. Wenn ein Beobachter auf Horchposten ist, hat er seine Sinne, Augen und Ohren auf eine bestimmte Wahrnehmung eingestellt.
Diese sind zumeist bewusste Einstellungen, die auch landläufig mit «Konzentration» oder auch «Ausrichtung» bezeichnet werden. Es gibt darüber hinaus noch Einstellungen oder «Sets», die unbewusst auf die Wahrnehmung wirken.
Dazu gehören
1 . die vorausgegangenen Erfahrungen und
2 . persönliche Bedürfnisse, Gefühlszustände, subjektive Stimmungen, aktuelle Werthaltungen.
(Bei dieser Trennung wird davon abgesehen, dass Bedürfnisse, Gefühlszustände, Stimmungen und Werthaltungen erst durch Erfahrungen und/oder pädagogische Beeinflussung geschaffen wurden. Oft stammen diese Erfahrungen aus der frühen Kindheit oder Jugendzeit.)
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6.1 Vorausgegangene Erfahrung und Wahrnehmung
Fährt man mit dem Auto an einem unbekannten Plakatmotiv vorbei, auf dem kein Text ist, sondern nur eine völlig fremdartige Abbildung, so wird sie – wenn sie überhaupt gesehen wird – zunächst nicht erkannt. Erst bei häufigerem Erscheinen wird das Motiv identifiziert und mit bekannteren Motiven in Verbindung gebracht. Diese Erfahrung ist durch zahlreiche Experimente bestätigt worden.
Je vertrauter und bekannter eine Reizkonfiguration, desto stärker ist die Bereitschaft, sie auch zu erkennen bzw. wahrzunehmen.
Andererseits kann eine momentane Einstellung diesen Faktor der reinen Erfahrenshäufig-
keit und die daraus resultierende Einstellung kompensieren oder überwinden. In dem oben genannten Beispiel könnte die momentane Einstellung folgendermaßen hervorgerufen werden: Ein Autofahrer macht den anderen darauf aufmerksam, dass er an seiner Strecke ein völlig neues Plakatmotiv sehen wird.
Ganz frische Erfahrungen neigen stärker dazu, die Wahrnehmung zu beeinflussen, als länger zurück liegende Erfahrungen.
Ausnahmen von dieser Regel finden sich im Zusammenhang mit der geordneten Abfolge von Reizen in der Zeit. Ein Junge läuft mit einem Stock an einem Lattenzaun entlang. Nach jeder achten Latte ist ein größerer Zwischenraum. Bei dieser Geräuschabfolge hört ein Passant das «Knack» nach der achten Latte deutlicher, als das Knattern des Stockes auf der ersten bis achten Latte, obwohl diese Geräusche öfter an sein Ohr kommen.
Angenommen, man geht gleichmäßig schnell an einem langen Bauzaun entlang, der dicht beklebt ist mit gleichen Plakaten auf rotem Grund. Nach jeweils 10 Plakaten ist ein blauer Zettel dazwischen geklebt. Beim Entlangschreiten ist die Einstellung geradezu auf den blauen Zettel gerichtet. Er wird erwartet.
Genauere Untersuchungen dazu hat K. Gottschald durchgeführt. (Über den Einfluss der Erfahrung auf die Wahrnehmung von Figuren, Psychologische Forschung 8/1929. 261-317 und 12/1920, 1-87)
6.2 Bedürfnisse, Gefühlszustände, Stimmungen und Werthaltungen
Zwei Menschen gehen in ein Bistro, in dem eine attraktive Kellnerin bedient. Der eine Freund ist besonders hungrig und der andere geht auf Freiersfüßen. Fragt man sie nach dem Verlassen des Bistros, was ihnen in diesem Lokal besonders aufgefallen ist, so besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass der vorher Hungrige das Essen erwähnt, und der andere die nette Kellnerin beschreibt.
An diesem kleinen Beispiel ist zu erkennen, dass die Art und Weise, wie eine Reizsituation wahrgenommen wird, deutlich Auskunft geben kann, welche Bedürfnisse oder Gefühlszustände den Beobachter bewegen. Die sich durch solche Rückschlüsse ergebenden Betrachtungen spielen wohl auch in der Kriminalistik eine nicht unerhebliche Rolle.
6.2.1 Bedürfnisse
Je stärker ein Bedürfniszustand (z.B. der Hunger) ist, desto mehr wird der Beobachter seine Wahrnehmung in Richtung auf diejenigen Umweltreize (hier Essensmöglichkeiten) strukturieren, die sein Bedürfnis befriedigen können. Man könnte annehmen, das sei selbstverständlich. Aber so einfach ist das nicht. Um den Zusammenhang zwischen Bedürfnis und Wahrnehmungsgestaltung genau zu erkennen, wurden vielfältige Untersuchungen durchgeführt, u.a. an der Universität Marburg.
Dabei hat sich ergeben, dass die Faktoren Bedürfnisspannung, Reizkonfiguration und Einstellung in einer komplexen Wechselwirkung stehen. Ruft also z.B. der Bedürfniszustand Hunger die Einstellung auf Essen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hervor, so kann diese doch durch die gesamte Situation wieder verdrängt werden, wenn es sich z.B. um eine Arbeitssituation handelt, die eine Konzentration auf Kontrollorgane erfordert.
Erst in der Kantine wird dann die Einstellung auf Essen wieder begünstigt und die Wahrnehmungsorganisation entsprechend ausgerichtet.
6.2.2 Gefühlszustände – Stimmungen
In einer Untersuchung von Murrag (1933) wurden Kinder aufgefordert, Portraitfotos zu beurteilen.
Dabei wurden die Kinder beim ersten Mal unbeeinflusst gefragt, dann nach einem aufregenden «Mörderspiel» ein zweites Mal. Bei den zweiten Antworten sahen die Kinder sehr viel mehr «Bösartigkeit» in den Portraits als vorher. Diese Einstellung der Wahrnehmung wird besonders bei wenig strukturierten Reizen wirksam. Das Knarren eines Fensters bekommt nach einem spannenden Krimi im Fernsehen plötzlich eine andere beängstigende Bedeutung. Oder es werden bei Nacht in Schatten, Büschen oder Nebelschwaden «verdächtige Gestalten» wahrgenommen. Dass auch die Aufnahmebereitschaft von Farben gefühlsmäßigen Schwankungen unterworfen ist, wurde in dem Kapitel Farbe bereits erwähnt.
6.2.3 Werthaltungen
Zeigt man streng Gläubigen und nicht Gläubigen farbige, abstrakte Bilder und fordert sie auf, diese zu beschreiben, so werden die gläubigen Betrachter mit großer Wahrscheinlichkeit mehr religiöse Motive herausfinden als die nicht gläubigen Probanden.
Diese Grundeinstellungen können auch aus anderen Bereichen kommen, z.B. aus dem ästhetischen, sozialen, politischen oder ökonomischen Bereich. Genauere Untersuchungen wurden von Postmann, Bruner und McGinnies bereits 1949 durchgeführt. Dabei konnte die Hypothese gestützt werden, dass der Mensch bevorzugt seine Wahrnehmung so einstellt, dass das Wahrgenommene möglichst mit seinen Werthaltungen und vorgefassten Stellungnahmen übereinstimmt.
Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass z.B. ein religiöser Mensch Abbildungen, Wörter und Melodien seiner Religion viel häufiger sieht oder hört als ein areligiöser Mensch.
6.3 Konsonanz – Dissonanz zwischen Einstellung und Reizmuster
Wie bereits beschrieben wurde, ist die Auswirkung einer Einstellung durch Erfahrung, Bedürfnis, Gefühlszustand, Werthaltung auf die Wahrnehmung nicht immer so ganz eindeutig, sondern von unterschiedlichen Faktoren abhängig :
1. Die Einstellung kann u.U. eine besondere Bedeutung bekommen.
2. Ein Bedürfnis kann sehr stark sein oder auch schwach.
3. Die Einstellung kann grundsätzlicher Art sein oder nur für eine kürzere Zeit wirksam sein.
4. Im Menschen können mehrere Einstellungen gleichzeitig wirksam werden, die sich miteinander vertragen oder die entgegengesetzt wirken.
5. Die Strukturstärke der Reizmuster kann mitentscheidend sein. Eine schwächere
Reizmusterstruktur wird leichter von einer Einstellung beeinflusst als eine stärkere.
6. Die Einstellung kann der Wahrnehmung entsprechen oder ihr genau widersprechen.
In diesem Abschnitt sollen vor allem die Vorgänge besprochen werden, die bei einer Dissonanz zwischen Einstellung und Reizmuster ablaufen.
6.3.1 Selektivität
In der nun folgenden Abbildungen sind zwei Frauen-Porträts in einem Bild so gezeichnet, dass man alternativ das Profil einer anziehenden jungen Frau oder das einer hässlichen Alten sehen kann.
Leeper machte mit diesen Bildern folgenden Versuch: Er zeigte einer Gruppe von Versuchspersonen eine ganze Reihe von Bildern. Unter diesen war das Bild der «jungen Person» – siehe rechts unten – gemischt. Einer anderen Gruppe zeigte er zusammen mit anderen Bildern das Bild der «Alten» – siehe links unten.
Dann wurde allen Teilnehmern dieses Versuchs die vollständige Abbildung links vorgelegt. Das Ergebnis war eindrucksvoll. Sämtliche Versuchspersonen der ersten Gruppe sahen in dem doppeldeutigen Bild spontan die junge Frau und 95 % der zweiten Gruppe sahen in der doppeldeutigen Abbildung die «Alte».
Die subjektiv gewonnene Einstellung der Beobachter wirkte sich in der doppeldeutigen Situation unzweifelhaft selektiv aus.
Das heißt, wenn zwei oder mehrere Gestaltungsmöglichkeiten eines Reizmusters gegeben sind, wählt die Wahrnehmung diejenige Gestaltung aus, die mit der betreffenden Einstellung übereinstimmt.
6.3.2 Verzerrung
Wenn eine gegebene Reizsituation, z.B. ein Bild, so strukturiert ist, dass sie der vorherrschenden Einstellung des Betrachters nahezu, jedoch nicht vollständig entspricht, dann wird trotzdem das wahrgenommen, was sich der Betrachter vorstellt.
Die Teile des Bildes, die der Einstellung nicht entsprechen, werden verzerrt wahrgenommen. Anders gesagt: Sie werden der vorgefassten Einstellung angepasst.
Dieser Mechanismus wird auch noch bei stark widersprüchlichen Teilen wirksam. Die unpassenden Teile werden einfach unterdrückt. Dieser Vorgang der Unterdrückung von unbequemen oder widerwärtigen sozialen Vorgängen wird in der Psychologie mit Verdrängung bezeichnet, und es ist ein bedeutsamer Komplex für die Heilungschancen bei einer entsprechenden Therapie.
6.3.3 Kompromiss
Bruner und Postmann zeigten in einem interessanten Versuch, welche Kunststücke die Wahrnehmungsorganisation vollbringt, um die Einstellung mit der Reizsituation zu vereinigen.
Einigen Versuchspersonen wurden kurzzeitig (mit Tachistoskop) Spielkarten gezeigt, mit der Bitte, die Karten einfach zu benennen. Einige Karten waren für diesen Versuch mit verkehrten Farben gedruckt worden. Es gab also eine schwarze (anstatt rote) Herz-Sechs, eine rote (anstatt schwarze) Pik-Vier usw. Bei hinreichend kurzer Darbietung verzerrten die meisten Betrachter die gefälschten Karten so, dass ihre Erwartungen bestätigt wurden.
Beispielsweise wurde die rote Pik-Vier als Herz-Vier gesehen oder auch als Pik-Vier, ohne dass der Farbwiderspruch bemerkt wurde. In anderen Fällen, bei längerer und wiederholter Betrachtung, wurde eine Zwischenlösung oder ein Kompromiss gesehen, so z.B. eine rote Pik-Sechs als «eine Art purpurne Pik-Sechs».
Die Wahrnehmung ist also unter Umständen ein Kompromiss zwischen dem, was die Einstellung nahelegt und dem, was dem erfassten Reizmuster entspricht.
Dieses Phänomen spielt vielfach allgemein-psychologisch bei der Wahrnehmung zwischenmenschlicher Prozesse u.ä. eine Rolle.
6.3.4 Rückwirkende Umformung der Einstellung
Kommen wir noch einmal auf das obige Experiment in 6.3.3 zurück. Wenn die Betrachtungsdauer genügend verlängert wurde, erkannten die Versuchspersonen die Unnatürlichkeit der Spielkarten. Dadurch aufmerksam geworden, erwarteten die Betrachter geradezu eine falsche Spielkarte und erkannten sie rascher als vorher. Die frühere Einstellung «nur normale Spielkarten zu sehen» wurde durch die Einstellung «falsche Karten» zu Gesicht zu bekommen verändert auf die Wahrnehmung «der falschen Karten».
Wenn eine Abbildung oder eine andere Reizsituation stark strukturiert ist und im krassen Gegensatz zu der Einstellung des Betrachters steht, so kann dieser Widerspruch verstärkt werden. Der Beobachter wird sich der Diskrepanz besonders deutlich bewusst und wendet ihr seine Aufmerksamkeit zu. Dadurch verändert sich die ursprüngliche Einstellung.
Die durch die Einstellung hervorgerufenen Erwartungen können wegen der «harten Tatsachen» in der realen Situation die geforderte Wahrnehmungsorganisation nicht mehr zustande bringen. Somit passt sich die Wahrnehmung der gegebenen Reizsituation an.
Hieraus wird besonders deutlich, dass Einstellung und Wahrgenommenes in einer ständigen Rückkopplungsbeziehung mit wechselseitiger Kontrolle stehen.
6.4 Aufmerksamkeit
Die Aufmerksamkeit ist eine der Grundeinstellungen des Menschen überhaupt. Das Thema ist oft heiß diskutiert und viel erforscht worden, vor allem unter den Psychologen des Werbefachs, die immer wieder die Aufmerksamkeit der Verbraucher auf ihre Werbemittel lenken müssen. Bevor wir die Aufmerksamkeit in dem nachfolgenden Text auf die Wirkungsfaktoren der Aufmerksamkeit richten, ist es sinnvoll, erst einmal einen physiologischen Abstecher zu machen.
Unser Gedächtnis besteht nach Frederic Vester aus drei Abteilungen:
Dem Langzeitgedächtnis, in dem die Erinnerungen als Moleküle – so sagt er – gespeichert sind, dem Kurzzeitgedächtnis, wo die im Langzeitgedächtnis zu speichernden Moleküle gebildet werden und dem Ultrakurzzeitgedächtnis, in dem die erfassten Informationen als elektrische Schwingungen kreisen.
Die bewusste Aufnahme einer Information ins Ultrakurzzeitgedächtnis – also die Wahrnehmung – hängt von der Aufmerksamkeit ab. Ob aber für eine bestimmte Information Aufmerksamkeit empfunden wird, ist von bereits vorhandenen Assozia-
tionen im Langzeitgedächtnis abhängig, von bestimmten Einstellungen, von mögli-
chen Gedankenverbindungen, die mit der Neuigkeit verknüpft werden können. Sind keine Assoziationen vorhanden, wird keine Aufmerksamkeit geweckt, klingen die elektrischen Schwingungen im Ultrakurzzeitgedächtnis wieder ab und das wahrgenommene wird wieder «gelöscht». (Zu dem Thema «Gedächtnis» verweise ich auf diesen Artikel, in dem eine esoterische Sicht ausführlich beschrieben wird, )
Um Aufmerksamkeit für eine neue Information zu erzielen, ist es also notwendig, diese Neuigkeit in zumindest einigermaßen bekannte Informationen zu verpacken, die dann vielfältige Assoziationen ermöglichen.
Die Aufmerksamkeit ist eine Erwartungshaltung des Beobachters, die von einer Voreinstellung, einem Begehren oder Bedürfnis, einer Stimmung, einer subjektiven Werthaltung geprägt ist.
6.4.1 Brennpunkt der Aufmerksamkeit
Wie aus alltäglichen Erfahrungen bekannt, hebt sich innerhalb eines umfangreichen Wahrnehmungsfeldes der Mittelpunkt deutlicher hervor.
Die Aufmerksamkeit lenkt die Konzentration der Wahrnehmung auf ein bestimmtes Zentrum.
Soll z.B. ein größeres Bild aufgenommen werden, so wandert das Aufmerksamkeitszentrum von einem Bildteil zum anderen.
Die Aufmerksamkeitszentrierung ist gewöhnlich sehr kurz.
Sie unterliegt einer bestimmten Sättigung, und nach einer gewissen Zeitspanne neigt die Aufmerksamkeit «spontan» zum Weiterspringen. So kommt es, dass umfangreiche Reizmuster, Bilder, Landschaften o.ä. mit den Blicken sozusagen erwandert werden. Die Abbildung oben zeigt die sukzessive Fixierungen einzelner Bildteile beim Betrachten einer Internet-Seite. Die Augenbewegungen eines Beobachters können mit Hilfe einer Spezialkamera fotografiert und dokumentiert werden.
6.4.2 Aufmerksamkeitsumfang
Die Umschaltung der Aufmerksamkeit auf neue Reize ist offenbar deshalb erforderlich, weil der Umfang dessen, was wir mit einer Konzentrierung der Aufmerksamkeit einfangen können, extrem begrenzt ist. Dieser Brennpunkt der Aufmerksamkeit ist ein kleiner Teil des Blickfeldes, z.B. kann man mit «einem Blick» eine große Anzahl von Reizen erfassen, aber nur eine geringe Menge detailliert wahrnehmen.
Um diese Aufmerksamkeitsspanne kennenzulernen, kann man einen einfachen Versuch machen:
Man schüttet eine Anzahl Erbsen, Bohnen o.ä. vor sich auf den Tisch und nennt spontan die Anzahl der Teile auf dem Tisch. Dann setzt man mit unterschiedlichen Mengen den Versuch fort. Man wird schnell herausfinden, dass man bis 5 oder 6 Teilen fast immer die richtige Anzahl nennt und darüber hinaus die Fehler stark zunehmen. Bei 11 oder mehr Einzelteilen sind die Schätzungen meistens falsch.
(Ein ähnlicher Versuch wurde von Glanville und Dallenbach 1929 durchgeführt.)
Der Mensch ist also gezwungen, sukzessiv – Stückchen für Stückchen – seine Wahrnehmung in der Zeitabfolge auf einzelne Teile des gesamten Reizfeldes zu lenken.
Dieser Aspekt ist bei der Gestaltung von Kunstwerken oder Werbemitteln zu beachten, denn es ist nicht nur vom ästhetischen Wert her gesehen bedeutsam, in welcher Reihenfolge ein Bild wahrgenommen wird, sondern auch und vor allem für das Begreifen des Inhaltes besonders wichtig. Die großen niederländischen und italienischen Maler haben die Aufmerksamkeit des Betrachters durch besondere Lichteffekte und abweichende Perspektiven gelenkt.
Die Schule von Athen, Raffaello Sanzio (1509)
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6.4.3 Aufmerksamkeitsverteilung
Jeder hat schon einmal eine Situation erlebt, in der er zwei Dinge gleichzeitig erledigen wollte. Beim Multitasking muss der Mensch seine Aufmerksamkeit teilen. Vielleicht kann er dabei auch selbst feststellen, dass ihm diese Aufmerksamkeitsteilung nicht so recht gelingt.
Es ist fast natürlich, dass mit der Teilung der Aufmerksamkeit ein Qualitätsverlust verbunden ist.
Auch wenn man seine «Aufmerksamkeit» einem großen Blickfeld zuwendet, also diffus verteilt, wird die Erfassung jedes Einzelteiles geschwächt. Es steht für jeden Teil nur ein kleines Spektrum der physiologischen Voraussetzungen sowie der nervlichen Verschaltungen zur Verfügung. Bei einer totalen Konzentration auf einen begrenzten Blickpunkt ist die ganze Summe der – sonst verteilten – Aufmerksamkeit eingesetzt.
Oft scheint ein Mensch in der Lage zu sein, innerhalb eines kurzen Zeitintervalles wahre Wunder an Konzentration auf mehrere Aufgaben zu vollbringen. Meistens handelt es sich hierbei nicht um echte Gleichzeitigkeit, sondern um Multitasking, einem komplexeren Prozess, vor allem um einen sehr raschen Aufmerksamkeitswechsel in der Zeit, z.B. bei Computer-Spielen, im Cockpit eines Flug- oder Fahrzeugs oder beim Orgel-Spielen usw. Dabei spielt natürlich auch die antrainierte Routine eine wesentliche Rolle: Es sind dem Akteur ganze Gruppen von Handlungsabläufen so stark vertraut, dass er sich nicht mehr auf sie zu konzentrieren braucht. Ein weit bekanntes Beispiel ist das Autofahren. Für einen Nichtautofahrer oder Anfänger erscheint es, als würde ein routinierter Chauffeur in einer Großstadt wahre Wunder an Konzentration vollbringen. Tatsächlich laufen jedoch die meisten Handlungen vollständig automatisch ab, und nur ein Bruchteil der Verrichtungen bedarf seiner Aufmerksamkeit.
Im Rahmen der Informationstheorie wurde ein allgemein anwendbares Maß für den Aufmerksamkeitsumfang pro Zeiteinheit erarbeitet. Das sogenannte Bit (aus dem Englischen = binary digit) ist die Einheit für die Mindestzahl von Entscheidungen, die zur Beschreibung bzw. Kommunikation eines gegebenen Reizfeldes, eines Buchstaben oder Bildteiles, erforderlich sind.
So erfordert ein aus vier Elementen bestehendes Feld zur Beschreibung zwei Bits, ein aus acht Elementen bestehendes Feld drei Bits usw. (Über die Verteilung der Aufmerksamkeit und andere Prozesse, die in diesem Zusammenhang stehen, berichten die Darstellungen von G.A. Twiller und E.O. Cherry.)
Berücksichtigt man die vorangegangenen Einsichten über die enge Aufmerksamkeitsspanne und den Qualitätsverlust bei Spaltung der Aufmerksamkeit, dann wird der Wert der in den ersten Kapiteln beschriebenen Wahrnehmungsorganisation besonders deutlich. So erleichtern besonders die Gruppierungstendenzen dem Menschen ein Handeln in komplexen Situationen. Auch die bereits erwähnte Routine macht häufig eine konzentrierte Aufmerksamkeit überflüssig. Durch angelernte Erfahrungen stehen die notwendigen Voreinstellungen für die Wahrnehmung von vornherein bereit und die erfolgten Reize passen dazu.
Für viele Bereiche des Lebens sind diese Prozesse der Wahrnehmungsorganisation zur Bewältigung gestellter Aufgaben unabdingbar. Die Aufmerksamkeit wird von einem gewissen Ballast befreit und nur für besonders wichtige Dinge eingesetzt. Denkt man z.B. an einen Piloten in einem modernen Düsenjet.
Wieviel Zeit wäre erforderlich, wenn sich der Pilot auf jeden Kontrollblick, auf jede einzelne Handlung konzentrieren müsste?
Andererseits sind in anderen Bereichen des Lebens die automatisch ablaufenden Wahrnehmungsprozesse hinderlich.
Vor allem für den Grafik-Designer ist es manchmal notwendig, bestimmte Details eines Gegenstandes aus neuer Sicht wahrzunehmen und darzustellen. Auch steht die Routine häufig einem innovativen Wahrnehmen im Wege. Um diesem Mechanismus zu begegnen, wurden vor allem in Amerika sogenannte KreativitätsMethoden entwickelt.
6.4.4 Willkürliche und unwillkürliche Aufmerksamkeit
Die Unterscheidung zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeit ist sehr grob. Vor allem stößt man bei der Bestimmung des Begriffs „willkürlich“ schnell auf Fragen, die im Zusammenhang mit der prinzipiellen Motivation stehen.
(Dieser Bereich wird im Beltz Studienbuch, «Grundlagen der Psychologie 1», ausführlich beschrieben.)
Die unwillkürliche Aufmerksamkeit wird durch einen äußeren Reiz gefordert, und ist von bestimmten Einstellungen des Beobachters abhängig.
Die aufmerksamkeitsheischenden Eigenschaften, attraction appeals, von Reizen sind von der Werbewirtschaft eingehend erforscht worden, um sie für den Erfolg von Werbemitteln einzusetzen.
Die wesentlichen können folgendermaßen zusammen gefasst werden :
1. Intensität z.B. durch grelle Farben. (Beispiel nebenstehend)
2. Wiederholung:
öftere Verwendung eines gleichen Motivs, Namens, Slogans oder einer gleichen Headline
3. Isolierung – ein großes Wort oder ein Symbol etc.
auf einer sonst leeren Fläche
4. Bewegung und Veränderung durch mobile Displays etc.
5. Neuheit
4. Unverträglichkeit oder innerer Widerspruch
6.5 Abschließende Betrachtungen
In den vorhergehenden Kapiteln sind die Tatsachen und Prinzipien beschrieben worden, wie Reizmuster und Wahrgenommenes zusammenhängen und wie die Wahrnehmung durch physiologische und psychologische Zustände des Menschen beeinflusst werden. Es hat sich dabei zeigen lassen:
Die Wahrnehmung ist stark abhängig von der Eigenschaft der Reize, von dem körperlichen Setting, wie Kondition, Bedürfnisbefriedigung, Stress etc., dem psychologischen Zustand des Beobachters, wie aktuelle Bedürfnisse, Einstellungen, aktuelle Gefühlszustände, subjektive Ängste, aber auch von vorausgegangenen Erfahrungen sowie gesellschaftliche und religiösen Verboten und von physiologischen sowie neuronalen Mechanismen der Sinnesorgane des Wahrnehmenden.
Bei den vorliegenden Beschreibungen der Wahrnehmungsphänomene ist immer von der Voraussetzung ausgegangen worden, dass der eigentliche Beobachter dem «normalen Menschen» entspricht, das heißt, einem Erwachsenen der westlichen, zivilisierten Welt, der keine psychologischen oder sensorischen «Mängel» aufweist.
Fortsetzung im folgenden Kapitel: 7.0 Diverse Wahrnehmungsbeeinflussungen